Von der Egalité der poltischen Propaganda im deutschen Wahljahr 2015.
KOMMENTAR/rtb Es gibt im menschlich geselligen Miteinander kaum etwas von größerer Peinlichkeit als die Entdeckung einer vollkommenen Einvernehmlichkeit, nachdem man zuvor miteinander noch in heftigstem Streit, in dem die verbalen Attacken jederzeit längst in den Bereich
tätlicher Argumente hätten wechseln können. Diese Art Streiterei, die aus Freunden Todfeinde fürs Leben werden läßt, diese Diskurse, führten zwischen hellenistischen Stadtstaaten zwangsläufig zu Kriegen und führen im ukrainischen Parlament noch heute zu wüsten Wirtshausprügeleien. Ein Bellismus, der dort wie damals oft als klares Signum einer demokratischen Kultur gewertet wird.
Wie anders sollte man die zahlreichen Plakate deuten, die auch 2015 in den Städten und Dörfern, an den Pendlerstrecken und auf kommerziellen Plakatwänden vom Wahlkampf in Hamburg und Sachsen-Anhalt künden? Dieser Qualtitätspluralismus der deutschen Portraitphotographie und Ausweis der vielfältigen Möglichkeiten moderner elektronischer Retusche. Dreiviertel- oder Frontatlansicht, Nah- oder Großaufnahme, gerne freigestellt, vor unscharfem Hintergrund. Massenware nach den CD-Vorgaben der Parteizentralen. Dafür können weder die Kandidatinnen und Kandidaten noch die fleißigen Photographen etwas.
Dreipunktausleuchtung, Puderquast und Photoshop
Wahlkampf ist eben Wahlkampf, selten eine ästhetische, künstlerische Auseinandersetzung mit dem Menschen, der ein Gesicht zeigen könnte, vielleicht sogar Tiefe, ja sogar als aktuelles Statement zur conditio humana dienen könnte, als Zeitbild gar. Als Icon, dessen Essenz über die Lebenslinien einer jeden Physiognomie hinaus seine ikonologische Aussage zur Zeit treffen könnte. Statt dessen sollen die Fotos in jedem Wahlkreis dem Kandidaten eine optische Präsenz sichern, um mit einem solcherart bekannt gemachten Gesicht für die Stimmen zu werben. So verlangt auch die Demokratie Opfer. So machen die fernen Wahlkampfstrategen den öffentlichen Raum zum Lamm, für einige Wochen zum ästhetischen Opfer der urbanen Zonen.
Wo sonst Verkehrsschilder farbige Akzente setzen, hängen die billig gedruckten Antlitze auf wetterfestem Plakatpapier. Rote, orange, blaue, gelbe und grüne Hintergründe verweisen auf die politische Couleur. Und davor versuchen sich Menschen als Model, deren Job es bestenfalls werden sollte, gute Gesetze zu machen und die Regierung zu kontrollieren. Ein zaghaftes Lächeln (vor der Zahnkorrektur), ein Blecken (danach). Nur der Peer grinste 2013 erfolglos sein allerliebstes Grinsekatergesicht, während Mutti in sonnenköniglicher Selbstgewißheit ihr postgermanisches „l´état ce moi“ in die Welt lächelte. Die Lindi-Engel setzten da im Politmagazin Gala noch eine Beinlänge drauf – Körpereinsatz, den behaarte Speckkinnsausel im Südwesten nur noch anätzen können. Gell, nicht ein jeder kann so fesch sein wie der Cem?
Das hat der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt nicht einmal versucht und in dieser Art Realismus den Wahlkampf geführt. Ikonographisch orientiert an der Tradition der Portraitarbeiten Harmenjz‘ van Rhin vor der Reinigung des verschmutzen Firnis… in der Art einer Solonachtwache.
Gediegene Hamburger Sozialdemokratie statt verbeamteter Revolutionäre im Schuldienst
Einer der großen politischen Analysten und Soziologen der bundesdeutschen Gesellschaft des vergangenen Jahrhunderts postulierte bereits in den 1970er Jahren in einem Fernsehgespräch mit der Medialmedizinerin Frau Dr. Marianne Koch das Ende der ideologiedominierten Parteiendemokratie in der Tradition des neunzehnten Jahrhunderts zugunsten einer problemorientierten Sachpolitik. Damals konnte sich Victor von Bülow nicht entscheiden, ob in dieser Entwicklung auch der Fortschritt liegen würde, den – unter rein rationalen Bedingungen – man vielleicht würde erwarten können.
Damals war die Idee einer Demokratie der Technokraten, einer Demokratie der Bestregierung als interessante Alternative zu dirigistischen oder diktatorischen Systemen, doch müssen sich die Technokraturen auch im direkten Vergleich zu traditionellen Demokratien messen lassen. Heute haben nur noch wenige Diktaturen überdauert, so die VR Korea, die VR China oder auch Kuba, während zur selben Zeit dirigistisch operierende, supranationale Organisationen wie die EU-Kommission oder der IWF, multinationale wie EZB oder NATO stetig an Bedeutung und Einfluß gewannen. Die genannten überstaatlichen, transnationalen Organisationen haben natürlich nichts mit Diktaturen gemein. Die Mitgliedsstaaten sind demokratisch, die Maßnahmen der Organisationen werden zumindest indirekt durch Parlamente kontrolliert….
Nur liegen die Bedingungen dieser Organisationen, zumindest was ihre Motiven angeht, etwas anders: Der Währungsfond folgt als einzigem Prinzip dem des Geldes oder genauer gesagt dem des Kapitals. Die EU-Kommission folgt wie jede primäre Buchreligion dem Wortlaut ihrer marktwirtschaftlichen Gründungsdokumente, dieser profanen heiligen Schrift der Gemeinschaft des alten West-Europa. Im politischen Alltag können Lösungen weder aus monothematischen Aspekten entschieden werden, noch auf Basis von Gründungsdokumenten, die allem voran die Freiheit der Märkte postulieren.
Politik hingegen bedeutet letztendlich, mit aller Konsequenz für die Möglichkeit der Verwirklichung bestimmter Ziele auch Mittel und Methoden einzusetzen, die, gelinde gesagt, Härten gegenüber den eigentlichen Staatszielen enthalten können, also offensichtlich wider den „sense commune“ des Citoyen sprechen, und bei Anwendung rein ethischer, somit deontischer Kriterien überhaupt nie zulässig wären. Die selbst unter den Vorzeichen einer teleologisch, utilitaristischen Betrachtungsweise des Handelns sowie der Primär- und Sekundärziele schwierig bleiben.
Krieg, Hunger und Elend stehen für einige Begriffe, die die augenscheinlichen, sinnfälligen Härten praktischer Politik beschreiben. Die „raison d´Etat“, die Staatsräson, kann vieles verlangen, was dem Prinzip der Partizipation und dem Willen des Souveräns zuwiderläuft.
Technokratur braucht Karakter und Charaktere
Seit den öffentlichen Worten Victor Bülows sind drei Jahrzehnte vergangen. Politikstil und Staatsverständnis haben sich entscheidend gewandelt: von einem starken Staat, der sich der Angriffe des Deutschen Terrorismus erwehrte, einem westdeutschen Staat, der das halbe Kriegstheater des Ost-West-Dissenses vorbereitete, der seit den 1950er Jahren auf die friedliche Nutzung der Kernenergie setzte. Ein Staat, der im Süden Wackersdorf und im Norden Krümmel durchprügelte, der Flughäfen und Autobahnen ausbaute. Ein Staat, dessen Verwaltung politische Entscheidungen auch gegen den offensichtlichen Willen des Souveräns durchsetzte. Begleitet von einer staatsfreundlichen Judikative, die sich mehr an den Kodizes als am Recht orientierte. Ein Staatswesen, das man aus heutiger Perspektive als im parlamentarischen Entscheidungsprozeß demokratisch, in seiner Exekutive aber durchaus als absolutistisch bezeichnen könnte. Mit der Gründlichkeit und bürokratischer Strenge, für die die deutsche Exekutive Weltruhm besitzt.
Heute dagegen wird „reaktiv verwaltet“, was die euphemistische Beschreibung einer simplen Try-and-error-Strategie ist, deren Credo zu lauten scheint, bei jeder Handlung möglichst unbemerkt zu bleiben, um keine Änderungen des Plans zu provozieren. Es mag heute noch das wintermärchenhafte Wort Heinrich Heines gelten, daß „die Deutschen keine Tyrannenfresser“ seien, „Wutbürger“ aber doch. Vom Stuttgarter Tiefbahnhof über die Elternversammlung der Kitagruppe „Pippilotta“ bis zu Leipziger Spaziergängern.
Wutbürger, die behaupten, sie wären das Volk, gibt es allerorten. Darauf stellen sich auch die Politiker ein. XX-GIDA, Professor Luckes wilde Jagd und die Extremen rechts und links der breiten Mitte. Das neue Genre verlangt nicht nur nach einer Veränderung des Stils, sondern nach dem ersten Akt auch des gesamten Ensembles. Die führenden Altachtundsechziger beziehen längst eine Pension der Stufe A16 oder B6. Kinder, die Helmut Kohl und nur Helmut Kohl als Kanzler kannten, durften die Potenzierung, die Steigerung des Politischen erleben: Kohl, Schröder, Merkel. Das Wort des Souveräns (also entre-nous das Ihre und das meine), unser aller Wort ist nicht erst seit den präzisen Analysen der empirischen Sozialforschung zum Urmeter politischen Handels geworden. Zwischen den Marktschreiern, den Parolen des Tages, den Gesängen der Bürgerstuben, dem Hin und Her der lauten Diskurse schlägt schließlich die Stunde der Technokratie, der alternativlosen, der singulären Lösungen, der ôrdre d´ésprit, der reinen Vernunft, die Stunde des Rationalisten.
Wer sollte sich wider die Vernunft stellen wollen, wer sollte sich im reinsten Gewissen couragiert als unvernünftig erweisen? Wer, wenn nicht ein Narr oder Närrin? Vielleicht noch ein Mensch mit Charakter und Rückgrat, mit neudeutschem „Standing“. Abgeordnete eben, die die Wähler in die Parlamente geschickt haben, um das Beste für sie zu erreichen. Menschen eben, denen man bereits im Gesicht ansehen kann, daß sie einen „Arsch in der Hose“ haben, auch wenn von dem keine Abbildung plakatiert wird. Doch auf den vielen tausenden Wahlplakaten waren nur wenige Gesichter dieser Spezies abgebildet. Mag sein, daß wir, die Wähler eine Chance gehabt hätten. Heute aber haben wir wieder einmal nur die Wahl gehabt.